Synästhesie: Wenn Mozart rosa klingt

Farben hören und Klänge sehen – Synästhesie ist eine faszinierende Besonderheit. Was verleiht Synästhetikern ihre Fähigkeiten?

Farben hören und Klänge sehen – Synästhesie ist eine faszinierende Besonderheit. Was verleiht Synästhetikern ihre Fähigkeiten? | Bild: agsandrew – Fotolia

Shakespeare, Kandinsky oder Liszt: Sie alle sollen Synästhetiker gewesen sein. So nennt die Fachwelt Menschen, die beispielsweise Farben hören oder Klänge sehen. Die Koppelung mehrerer Sinneseindrücke galt früher als krankhafte Wahrnehmungsstörung. Heute ist das Phänomen Synästhesie als eine Art Extraleistung des Gehirns anerkannt, die sogar messbar ist. Doch was verleiht den Synästhetikern diese erstaunlichen Fähigkeiten?

Der deutsche Komponist Franz Liszt soll 1842 sein Orchester mit folgenden Worten angeleitet haben: „Dieser Ton ist dunkelviolett, meine Herren, und nicht so rosa, glauben Sie mir!“ Er gehörte damit zu einer Gruppe von Menschen, bei der eine Sinneswahrnehmung automatisch eine andere unabhängige Wahrnehmung auslöst. Solche Synästhetiker (griechisch syn: zusammen und aisthesis: Wahrnehmung) „schmecken“ Farben, „sehen“ Töne oder „fühlen“ Geschmacksnoten. Dabei gibt es zig unterschiedliche Typen von Synästhesien – manche treten häufiger auf, andere seltener. Sean A. Day von der American Synesthesia Association geht von mindestens 72 verschiedenen Synästhesie-Arten aus. Und das ist noch nicht alles: Selbst ein und dieselbe Synästhesie ist nicht bei jedem gleich. So kann die Zahl 7 für den einen blau, den anderen gelb und einen dritten rot-orange sein.

Doch egal, um welche Variante es sich handelt, ob sich nur zwei Sinne oder mehrere vermischen – bestimmte innere Regeln haben alle Synästhesien gemeinsam: Sie treten unwillkürlich auf. Sie können weder aktiv unterdrückt noch herbeigeführt werden. Und die Eindrücke sind unveränderlich: Wenn das „A“ einmal grün war, wird es das immer bleiben.

Synästhesie – Weder Einbildung noch Krankheit

Synästhetiker sind ihren Mitmenschen meist suspekt. Sie werden als verschroben belächelt oder man hält ihre Wahrnehmungen für Einbildung oder gar den Ausdruck einer psychischen oder körperlichen Erkrankung. Doch Synästhesie wird nicht in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) der WHO gelistet und beispielsweise von der American Medical Association nicht als behandlungsbedürftig eingestuft. Dass es sie wirklich gibt, ist dank moderner Technik wissenschaftlich unbestritten. Bildgebende Verfahren wie EEG oder MRT konnten zeigen, welche Gehirnareale zum Beispiel beim Hören eines Wortes aktiv sind. Während beim Nicht-Synästhetiker das „Hörareal“ aktiviert wird, kommt es beim graphemischen (1) Synästhetiker zusätzlich zu einer Aktivierung des „Farbareals“. Doch warum?

Was passiert bei Synästhetikern im Gehirn?

Am verbreitetsten ist die Hypothese, dass zwischen Hirnarealen, die normalerweise nicht oder wenig verbunden sind, eine Hyper-Konnektivität, also eine übermäßige Vernetzung, besteht. Diese Erklärung passt vor allem auf die sog. Graphem-Farb-Synästhesie, da das Farb-Areal und das Buchstaben-Areal im Gehirn dicht beieinander liegen. Sind Nervenfasern zwischen diesen beiden Regionen verbunden, können Sinneseindrücke gleichzeitig aktiviert werden, die eigentlich nicht verknüpft sind. Die Gründe für solch eine Hyper-Konnektivität sind noch nicht vollständig geklärt. Eine Theorie ist, dass Nervenverbindungen, die im Gehirn des Fötus noch vorhanden sind und die gewöhnlich im Lauf der frühen Kindheit gekappt werden, bei Synästhetikern bestehen bleiben. Kommen demnach alle Menschen als Synästhetiker zur Welt? Nach Ansicht der meisten Neurologen und Synästhesieforscher zumindest zu einem gewissen Grad.

Synästhesie ist vermutlich erblich

Da es in Familien meist mehrere Synästhetiker gibt, spricht viel für eine genetische Ursache. Doch wie genau wird die Synästhesie vererbt? Ist nur ein Gen für die Vermischung der Sinne insgesamt verantwortlich? Oder gibt es für jede Form der Synästhesie ein eigenes? Diesen Fragen gingen Forscher des Trinity College Dublin im Jahr 2008 nach. Dazu untersuchten sie bei 53 synästhetischen Studienteilnehmern sowohl deren konkrete Form der Synästhesie als auch die ihrer Verwandten. Das Ergebnis: Bei fast der Hälfte (43 Prozent) aller Versuchsteilnehmer fand sich mindestens eine weitere Person in der Verwandtschaft ersten Grades, die ebenfalls Synästhetiker war. Und: Bei weitem nicht immer hatten Verwandte die jeweils gleiche Variante der Synästhesie. Demnach scheint nur ein einziger genetischer Mechanismus für alle Varianten der Synästhesie verantwortlich zu sein. Da aber auch eineiige Zwillinge, also Zwillinge mit identischer Genausstattung bekannt sind, von denen nur einer Synästhetiker ist, spielen neben der Veranlagung vermutlich auch Umwelteinflüsse eine Rolle.

Ungelöst ist derzeit auch die Frage, wie viele Synästhetiker es eigentlich gibt. Die Schätzungen neuerer Studien variieren zwischen zwei bis vier Prozent. In einer Studie mit Zürcher Kunststudenten waren es sieben Prozent. Dabei kann die Dunkelziffer wesentlich höher sein – viele Menschen sind sich ihrer Synästhesie gar nicht bewusst oder halten sie aus Angst vor negativen Reaktionen geheim. Das kann durchaus von Vorteil sein, denn immer wieder werden Fälle von Psychiatrieeinweisungen und Psychopharmaka-Einsatz bei Synästhesie bekannt.

Nicht weniger bedeutend als die weitere Erforschung der zugrundeliegenden Prozesse, die vor allem in Kalifornien und Großbritannien vorangetrieben wird, ist deshalb mehr Aufklärung in der Bevölkerung, aber auch unter Therapeuten. In vielen Ländern gibt es deshalb heute Organisationen und Verbände, die beispielsweise auf Internetseiten (s. 2 und 3) über dieses faszinierende Phänomen der menschlichen Wahrnehmung informieren.